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  • Klaudia Frechen

Der Schatz

Für meine Tante H.(91), die mir dieses Erlebnis erzählte.



Es war noch dunkel als er die Treppe nach oben stieg.
Vorsichtig und leise setzte er Fuß vor Fuß, damit sie nicht knarzte und alle weckte.
Er wusste genau welche Stufe beim Betreten leise vor sich hin stöhnte oder welche laut schimpfend knackte, weil ihr die Last zu groß war. Andere sangen seltsame Töne, wenn man darauf trat.
So kletterte er die große Treppe in Schlangenlinien nach oben, vermied die eine oder andere Stufe ganz, indem er sie mit einem großen Schritt überstieg oder harrte ab und zu für ein paar Sekunden aus, damit sich das alte Mädchen beruhigen konnte.

Unter dem Dach schliefen seine vier Schwestern.
Dort war es zwar kalt, aber wenigstens hatten sie Betten, in die sie sich zu zweit aneinander kuscheln konnten.
So kalt wie es im Winter dort oben war, so warm war es im Sommer.
Da half es auch nicht, wenn sie die Dachfenster öffneten und für Durchzug sorgten.
Er und sein Bruder hätten die sommerliche Hitze gerne in Kauf genommen, um in einem Bett schlafen zu können. Doch sie schliefen immer gerade da, wo Platz war.

Oben auf dem Speicher angekommen, versuchte er die ebenfalls launischen Holzdielen mit sachten Schritten genauso wenig zu verärgern wie die Treppe, um möglichst niemanden aus dem Schlaf zu reißen.
Leise schlich er an das Bett, von dem er wusste, dass sie darin schlief und rüttelte sacht an ihrem Arm.
Sie schreckte hoch und sah ihn mit verschlafenen Augen an.
Ohne ein Wort kletterte sie aus dem Bett.
Worte brauchten beide Kinder nicht.
Es war eine abgemachte Sache, dass sie mit ihm ging.
Sie sah sich noch einmal nach ihrer schlafenden Schwester um und zog sich an.

Stumm schlichen beide vorsichtig die Treppe hinunter, hielten das Geländer fest umklammert. Bloß nicht im Dunkeln die Stufen verfehlen und hinunterfallen!

Schnell huschten sie durch den Garten, vorbei an der Waschküche, den Ställen der Kaninchen und der beiden Schweine.
Sie wusste nicht, wo es hinging, aber das war nicht wichtig.
Wichtig war nur, dass er wusste, wo es etwas zu organisieren gab.
Brikett, Holz, Rüben, Brot oder Mehl.
Was auch immer es gerade gab, sie holten es. Brauchten sie es nicht, konnte man es gegen Nötiges eintauschen.
Hamstern.
Oft dachten sie an nichts anderes.
Ihr ständig knurrender Magen erinnerte sie ununterbrochen daran, dass alles, was man ihm gab, nicht dem entsprach, was er erwartete, so dass er sie oft wütend mit plötzlichem Schwindel überschüttete.

Manchmal schickte die Mutter sie auch über Land in die Eifel zur Verwandtschaft. Vielleicht gab es dort Brot oder Mehl? An so etwas wie Schinken oder Speck wagte sie gar nicht zu denken. Wenn sie dann erst am nächsten Tag zurückkamen, sahen sie der Mutter an, wie müde sie war, weil sie voller Sorge um sie nicht geschlafen hatte.

Sie überquerten einen großen freien Platz, voller Schlaglöcher und Pfützen, der die Gärten der Häuser in der Straße vom Bahnhof mit seinen Gleisen trennte. Riesige, große, alte Linden verdunkelten ihn noch mehr und schienen mit ihren wild wedelnden finsteren Schattenfingern nach ihnen zu greifen.

Sie halfen sich gegenseitig. Schweigend. Mit Zeichen.
Hielten den andern zurück bevor er in eine der tiefen Pfützen trat.
Sie hatten jeder nur ein paar Schuhe. Nass werden, nein, das durften sie nicht. Dann musste man barfuß laufen.

Als sie die Unterführung durchquerten, über der Schienen verliefen, gruselte sich die Schwester nicht wenig, weil es dort so besonders finster war und man die Hand nicht vor Augen sehen konnte.
Eine aufgeschreckte Ratte huschte schnell vor ihren Füßen davon.
Fast hätten beide laut aufgeschrien.
Ihre Herzen schlugen ihnen bis zum Hals und beide waren sich sicher, dass man sie bis hinaus in die Nacht hören konnte und dass sie sich verrieten.

Leise!
Bloß niemanden auf sich aufmerksam machen!
Denn zu dieser Tageszeit waren schon all jene unterwegs, die wussten, wo es etwas zu „fringsen“, zu „hönneschen“, gab. Und auch jene, die es nicht wussten, aber denen, die etwas ergattern konnten, auflauerten und sie notfalls mit Gewalt zur Herausgabe ihres wertvollen, ihres überlebenswichtigen, Gutes zwangen.

Schon bog ihr Bruder nach rechts ab.
Dort gab es im Abhang die Eisentür eines ehemaligen Bunkers, die immer fest verschlossen war. Die Amerikaner hatten dort einen Unterstand.
Manchmal schenkten sie den Kindern Schokolade oder Kaugummi.
"Ssänk ju!", sagten die dann und liefen schnell davon.
Die Amerikaner waren jetzt weg. Abzug.
Der Bruder sah sich um und griff mit der Hand nach der Türklinke.
Er drücke sie hinab und zog daran.
Tatsächlich bewegte sich die schwere Tür laut quietschend.
Sie half ihm und gemeinsam zogen sie sie auf.
Ungläubig blieb sie draußen stehen.
Träumte sie oder war das, was sie sah, wirklich wahr?
Erst als ihr Bruder sie an der Hand in den Raum zog, bewegte sie sich wieder und sah im Halbdunkel das breite Grinsen auf seinem Gesicht.
Er war so stolz, der Herr über diesen Schatz zu sein und freute sich auf den Anblick der Mutter, wenn sie ihn nach Hause brachten.
Mit großen Augen, ungläubig dieses unfassbare Glück zu haben, sah sich die Schwester um.
Hier gab es Dosen mit Kaffee, Zucker, Kakao, Milchpulver und Vieles mehr. Zigaretten.
So standen sie dort wie erstarrt.
Doch plötzlich, wie auf ein Kommando, griffen sie zu, ohne nachzudenken und ohne wirklich zu sehen, was sie ergriffen. Schnell. Schnell!
Sie packten alles, was ihnen in die Finger kam und trugen es rennend nach Hause.
Kamen zurück.
Trugen immer so viel, wie es ging.
Ihr Rock diente wie seine Jacke als Tasche.
Ins Hemd konnte man auch noch etwas stecken.
Nur schnell!
Schnell bevor jemand anderes das Schlaraffenland entdeckte, das die abgezogenen Amerikaner ihnen hinterlassen hatten.
Schnell!
Zurück zum Haus und dann wieder die Arme, den Rock, die Jacke gefüllt.
Schnell!

Zu Hause war die Mutter inzwischen wach und saß staunend und weinend vor den Kostbarkeiten, die ihre beiden Kinder herbeigeschafft hatten und die sich auf dem Küchentisch stapelten.
Sie verstand nicht immer, was auf den Dosen stand.
Aber es war etwas zu essen.
Lange saß sie am Tisch und sagte kein Wort.
Betrachtete diesen Schatz, nahm eine Dose in die Hand. „Kaffee!“, sagte sie leise und ungläubig. „Zucker.“ Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Zucker!“ rief sie und schlug sich lachend mit der Hand auf den Mund. Niemand sollte doch von ihrem Glück erfahren.
Dankbar strich sie den Kindern übers Haar, deren Gesichter vor Aufregung und der Anstrengung gerötet waren.
Sie hatten die Mutter so lange nicht mehr lächeln gesehen.
Sie fragte nicht „Wo kommt das alles her?“.
Stattdessen schürte sie das Feuer und sagte: „Setzt euch!“.

Die Geschwister setzten sich an den Tisch und rührten sich nicht.
Sie sahen der Mutter zu, die Milchpulver aus einer der Dosen anrührte und eine Dose Kakao öffnete, kurz daran roch und vor Wonne die Augen schloss, um ihn dann in die nun heiße dünne Milch zu geben.
Sie goss zwei Tassen voll und gab mit einer feierlichen Geste einen Teelöffel Zucker hinein.
Die beiden Kinder beobachteten sie ungläubig und mit großen Augen.
Die Mutter zögerte einen kurzen Moment, sah ihre beiden Kinder an und gab dann einen zweiten Löffel dazu.
„Heute. Nur heute. Zur Feier des Tages!“, sagte sie lächelnd, während sie die beiden Tassen vor ihnen abstellte.
„Nur heute.“
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