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  • Klaudia Frechen

Die Wand



Vorsichtig berührt sie die heiße Tasse mit ihren Lippen.

Kaffee. Schwarz. Nicht zu bitter. Genau richtig.

Ein erster Schluck. Langsam. Mit Genuss.

Die Augen geschlossen.


Herrlich heiß rinnt er ihren Hals hinab und verspricht für den zweiten Schluck ein eben solches Vergnügen.

Vorsichtig genießt sie einen weiteren Schluck.

Dann lehnt sie sich entspannt zurück und blickt auf seine Wand aus Buchstaben, Bildern und Papier.

Sie könnte die Zeitung jetzt von hinten mitlesen.

Aber dazu hat sie keine Lust.

Sie würde viel lieber in seinen Augen die Freude darüber entdecken, gemeinsam mit ihr am morgendlichen Kaffeetisch zu sitzen. Vielleicht würde er ihr sogar kurz die Hand drücken und ein Lächeln schenken.

Aber die Wand bleibt.

Ein leises Rascheln lässt sie erbeben, als er umblättert.


Sie seufzt, legt die Beine auf die Bank und schaut aus dem Fenster.

„Noch ganz schön dunkel“, sagt sie laut.

Keine Bestätigung. Keine Ablehnung. Kein Ton.


Die Wand bewegt sich ein wenig nach unten.

Vielleicht wird er sie jetzt ansehen.

Aber sie bleibt. Undurchdringlich.


Plötzlich spürt sie einen furchtbaren Hunger auf etwas.

Ein Brot. Vielleicht mit Honig?

Oder lieber mit dem herrlichen Ziegenkäse, den sie gestern erst im neuen Käseladen erstanden hatte und dessen Duft sich in der ganzen Küche ausbreitet, sobald man den Kühlschrank öffnet. So als riefe der Käse ihr zu: „Iss mich!“


Sie schaut zur Wand.


Oder lieber ein Croissant?

Weil heute Sonntag ist. Das müsste sie noch aufbacken.

Dazu Organgenmarmelade und ein nicht zu hart gekochtes Ei.

Ihr läuft das Wasser im Mund zusammen.


Gestern war es ihr schon genauso ergangen wie heute Morgen.

Sie spürte einen furchtbaren Hunger auf alles und nichts. Sie hatte den ganzen Tag gegessen und ging dennoch abends hungrig ins Bett. Sie hätte weiter essen können und ahnte doch, dass dieser verrückte Hunger unstillbar war.

Sie war fast darüber verzweifelt. Über diesen Hunger.


Ein Beben geht durch die Wand.

Er legt einen Teil der schwarzen-weißen Mauer zur Seite.

Hoffnung.

Aber die Wand bleibt. Undurchdringlich.


Sie atmet laut ein und aus, nimmt einen Schluck ihres schwarzen Kaffees, schließt dabei wieder die Augen und spürt wie die Wärme des Getränks langsam ihren ganzen Körper erfüllt. Vor Wonne lächelt sie.

Beim Öffnen ihrer Augen fällt ihr Blick auf den Blumenstrauß, der in der Mitte des Tisches steht. Herrlich bunt. Herbstastern. Wieder ein Lächeln. Mit der Hand streift sie leicht über die Blütenblätter einer besonders schönen Blume.

Vorsichtig, zart, um sie nicht zu zerstören.


Sie blickt wieder zur Wand, hinter der er vermutlich sitzt.

Vermutlich.

Aber sicher kann sie sich da nicht sein. Denn sie bleibt, diese Wand.

Undurchdringlich.



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